Bundesverfassungsgericht verhandelt über Hinweis auf Legasthenie in Abiturzeugnis
Mit der Leserechtschreibstörung Legasthenie hat sich das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch befasst. Der Erste Senat verhandelte über die Frage, ob ein Hinweis auf Prüfungserleichterungen im Abiturzeugnis diskriminierend ist. Drei Abiturienten aus Bayern waren nach Karlsruhe gezogen. Ein Urteil soll erst in einiger Zeit fallen. (Az. 1 BvR 2577/15 u.a.)
Bei Legasthenie handelt es sich laut Weltgesundheitsorganisation um eine Entwicklungsstörung, die nichts mit verminderter Intelligenz zu tun hat. Betroffene lesen deutlich schlechter und langsamer und machen mehr Fehler bei der Rechtschreibung. Heilbar ist die Störung nicht. Nach Angaben der bayerischen Regierung betrug der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Legasthenie im Jahr 2019 an den Gymnasien im Bundesland 1,8 Prozent und an allen bayerischen Schulen im Schnitt 3,4 Prozent.
Schülerinnen und Schüler mit Legasthenie haben in den Bundesländern verschiedene Möglichkeiten, einen Nachteilsausgleich oder den sogenannten Notenschutz in Anspruch zu nehmen. In Bayern geht das bis zum Abitur. Zum Nachteilsausgleich kann dort beispielsweise die Bearbeitungsfrist von Aufgaben verlängert werden. Wird Notenschutz beantragt, kann auf eine Bewertung der Rechtschreibung verzichtet werden. In den Fremdsprachen dürfen mündliche Leistungen stärker gewichtet werden.
Dieser Notenschutz wird im Zeugnis vermerkt. So war es auch bei den drei Abiturienten. Sie legten 2010 ihr Abitur ab und bestanden mit guten bis sehr guten Noten. In ihren Abiturzeugnissen finden sich aber Hinweise auf den Notenschutz. Gegen diese Vermerke zogen sie vor Gericht. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschied 2015, dass die Hinweise nicht gestrichen werden müssten. Daraufhin erhoben die drei Männer Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe. Sie bemängeln unter anderem einen Verstoß gegen das Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen.
Ihr Anwalt verlas in Karlsruhe eine gemeinsame Stellungnahme der drei, in der ihre Motivation deutlich wurde. Die Hinweise seien wie ein Stempel mit der Aufschrift "Vorsicht, ich habe eine Behinderung. Willst du mich wirklich als Bewerber?" erklärten sie. Sie befürchten, für "dumm und grottenschlecht" gehalten zu werden, obwohl das nicht der Fall sei.
Für die bayerische Regierung sagte Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler), dass der Zeugnisvermerk auch dem Schutz der Grundrechte der anderen Schülerinnen und Schüler diene. Es gehe um Chancengleichheit, die Prüfungsanforderungen sollten im Zeugnis transparent dargestellt werden. Sonst drohe ein "Systemwechsel hin zu einem individualisierten Prüfungsmaßstab", der von außen nicht erkennbar wäre.
Gerichtspräsident Stephan Harbarth kündigte an, dass der Erste Senat auf Grundlage der in der Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse darüber entscheiden wolle, ob das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gegen das Grundgesetz verstoße. Ein Urteil sollte am Mittwoch noch nicht fallen. Es wird erfahrungsgemäß in einigen Monaten erwartet.
M.Pacheco--LGdM